
Im »Tiefen Bärengrund«
Das Wasser schmeckte herrlich frisch. Graf Herdan schenkte immer wieder nach und Vitus trank in langen Zügen. Ein von weißen Steinen umgrenztes Lagerfeuer loderte auf. Die Flammen erhoben sich gegen eine natürliche, hohe Kuppel aus verschlungenen Pflanzen, die das Dach der Lichtung bildeten. Kein Laut entkam durch das dichte Geflecht, nur das feine Knacken der glühenden Holzscheite war zu hören.
»Dein Fausthieb war gut platziert!« Herdan rieb sich das schmerzende Kinn.
»Dann las den Bart dran! Die Leute könnten sonst falsche Schlüsse daraus ziehen«, scherzte sein Begleiter, der sich über die Situation köstlich amüsierte.
»Ha, ha!« Graf Herdan winkte ab.
»Es ist mir peinlich«, gab Vitus kleinlaut zu. »Ich schlug den Freund, der mich vor dem sicheren Tod bewahrte.«
»Das geht in Ordnung. Ist nicht das erste Mal, dass ich eine verpasst bekam.«
»Von deinen Liebchen!«, tönte es erneut, »aber nie von einem Mönch, stimmt`s, Herdan?« Die Stimme ging in ein krächzendes Gelächter über.
Herdan wurde merklich ungehaltener und strafte den anderen Grafen mit einem erzürnten Blick.
»Schon gut, Herdan. Schon gut. Aber hätte der Mönch auf uns gewartet, dann wäre meine Kleidung jetzt nicht voll mit Dreck beschmiert und ich ...«
»Es reicht, Eligius, Graf von Grottenthal! Wir sind beide seit Tagen unterwegs. Ich glaube eher, dass der Dreck auf deiner Kleidung deinen Körpergeruch davon abhält, die Umgebung zu verpesten. Also, lass ihn drauf. Wisch ihn bloß nicht wieder ab!«
Eligius stand wütend auf, klopfte sein verschlissenes, abgewetztes Gewand, das dem eines Bettlers ähnelte, herausfordernd ab, stampfte zu einem nahen Gebüsch und verschwand im Dickicht. Graf Herdan schaute Eligius kopfschüttelnd hinterher.
»Das ist er also, der »Tiefe Bärengrund«!«, stellte Vitus ernüchternd fest, ohne auf die Sache mit Eligius weiter einzugehen.
»Ja, das ist er. Was ist dir passiert, Vitus? Willst du mit mir darüber sprechen?« Die Blicke der beiden Männer trafen sich.
»Da war etwas Seltsames. Eine Erscheinung am Beginn des Pfades.«
»Eligius und ich haben nichts bemerkt. Was hast du denn gesehen?«
»Zunächst war da nur ein leises Geräusch, ein Züngeln und Zischen wie das einer Schlange. Die Luft flimmerte und ich sah in zwei flammende Augen. Dann war der Spuk vorbei.«
Graf Herdan hörte aufmerksam zu. Er beugte sich vor und flüsterte eindringlich: »Du hättest auf uns warten müssen! War es nicht so verabredet? Du bist es nicht gewohnt, dich auf derart gefährliches Spiel einzulassen.«
»Aber Gott war bei mir. Er hat euch beide geschickt und mich errettet.«
»Nein, Vitus!« Herdan meinte es ernst. »Hier unten, in dieser Dunkelheit, habe ich Gottes Macht noch nie erlebt. Hier spürst du nur den Hauch des Teufels, seinen schlechten Atem, tödlich, wenn er sich deiner bemächtigt. Oh ja, ich weiß, wovon ich spreche. Du hattest unverschämtes Glück, dass dich Eligius gerade noch erspähte, als du durch den Wacholderstrauch durchgeschlüpft bist. Wir konnten dich leider nicht mehr zurückhalten, weil wir zu weit entfernt waren. Wir haben nach dir gerufen, aber du hast nicht reagiert.«
»Was denkst du, was ich da gesehen habe?«
»Ich weiß es nicht, Vitus! Ich bin mir aber sicher, dass das Treffen mit den Grafen diesmal anders ablaufen wird als sonst. Wahrscheinlich werden wir Wasser statt Wein trinken und Suppe löffeln statt Schinken und Käse schmausen. Es wird uns jemand erzählen, dass das Böse wieder unser Land durchzieht.« Und als würde ihm diese soeben ausgesprochene Vorahnung nicht genügen, fügte Graf Herdan düster hinzu: »… aber was immer auf uns wartet, es wird unsere gesamte Wachsamkeit erfordern. So oder so, wir werden es bald erfahren.«