Geheimnisvolles Gandenthal

Auf dem Burgfried und eine uralte Saga

»Hättest Du damals gedacht, dass die Geschehnisse so schnell voranschreiten würden?« 
»Nein, Nicholas! Wir sollten auf alles vorbereitet sein! Komm, wir schauen nach, wie weit die anderen mit den Gefangenen sind.« Sir Robert vernahm ein Geräusch hinter sich und drehte sich um. Williams rotblonder Schopf erschien im Turmausstieg, dicht gefolgt von Linus.
»Wo habt ihr sie untergebracht?« 
»Im Glockenzimmer«, antwortete William. »Genau unter uns. Eine gründliche Reinigung mit Wasser und Seife könnten die Drei gebrauchen. Aber sie schlafen wie betäubt.«
»Hoffen wir, dass es so bleibt«, fügte Linus schnell hinzu. »Es ist schon ein verdammtes Pech, dass wir die Tür zum Glockenzimmer nicht abschließen können, geschweige denn, die zum Turm. Pit und Patrick sind bei ihnen.«
»Das lässt sich im Augenblick nicht ändern.« Sir Robert schlug seinen Jackenkragen höher und schaute düster in Richtung der nahenden Regenfront.
»Es wird bald regnen. Wir lösen uns mit der Wache ab. Nicholas, geh du am besten mit William zurück ins Haus. Falls wir euch brauchen, melden wir uns.«
»He, was ist mit meinem Vater?«, rief William, dem der Vorschlag gar nicht gefiel. »Es wird schnell dunkel in den Wäldern, und wenn wir uns nicht gleich aufmachen, werden sich die Spuren durch den Regen verwischen.«
»Da hast du nicht unrecht, William«, bestätigte Linus. »Aber es ist schon spät und dort in dem Waldgebiet, wo wir deinen Vater vermuten, wird es gefährlich für uns. Wir warten ab und schauen was passiert. Es ist davon auszugehen, dass sich die Entführer mit einer Botschaft an uns wenden werden. Deinem Vater fehlt bestimmt nichts. Die »Wilde Horde« wird auf ihn acht geben, weil er für sie wertvoll ist. Wir werden uns darum kümmern. Keine Sorge! Und, wolltest du mir nicht etwas über deine geheimnisvolle Schreibmappe erzählen?«
William berichtete Linus von seiner Begegnung mit dem Gaukler, von dem Spiel, das er gewann, und von der goldenen Münze Vivian, die ihm seinen Wunsch nach einer neuen Schreibmappe erfüllt hatte. Dann von dem unverhofften Zusammentreffen mit Andy und von seinem Glück, dass Ulrich ihn aus der Gewalt der Bande befreien konnte. Und schließlich von dem Brief, der an ihn persönlich adressiert war. 
Linus nickte zufrieden. »Wie ihr seht, passt alles zusammen. Es deckt sich mit meinen Aufzeichnungen aus den vergangenen Jahren.« 
»Erzählst du uns, was du darüber alles weißt. Mein Onkel hat gemeint, dass du uns sagen kannst, was der Brief mit mir zu tun hat.«

»Es ist eine uralte Saga, William, und hier im Gandenthal hat sie ihren Anfang genommen.«

Linus beginnt, seine Geschichte zu erzählen ... 

Die Mitglieder des Hohen Rates vom »Magischen Ring der Zauberer« waren außergewöhnliche Visionäre, Denker und Dichter, aber auch Träumer, beseelt von dem Wunsch nach einer besseren, friedvolleren Welt. Um dieses Ziel für die Menschen zu erreichen, setzten sie ihr größtes Heiligtum ein: »Rose«, das geheime Buch der magischen Künste. Mithilfe von »Rose« nahmen sie Einfluss auf die Zukunft, erschufen ein Reich voller Wohlstand und Glück, eine Welt ohne Hass und Habgier. Sie gestalteten mit ihren Prophezeiungen, mit ihren Geschichten und Visionen das Antlitz der »Alten Welt«.
Viele Jahrhunderte lang lebten die Menschen glücklich und im Einklang mit den Mächtigen im Lande. Der »Magische Ring der Zauberer« hatte sein Ziel erreicht. Es herrschte Friede. Und dann eines Tages, niemand fand zunächst eine Erklärung dafür, verstummten ihre Geschichten und Visionen. Die Mitglieder des »Hohen Rates« zogen sich zurück. »Rose«, das geheime Buch der magischen Künste, das den Menschen Jahrhunderte Wohlstand und Glück bescherte, blieb verschollen. Verunsicherung legte sich über das Land und bald darauf herrschte wieder Feindseligkeit und Missgunst. Die Menschen wurden von Hungersnöten und Krankheiten geplagt, verarmten und lebten ohne Hoffnung auf Besserung. Die Zeit der Dunkelheit senkte sich über das Land. Die »Alte Welt« zerfiel. 
Zu jener Zeit wanderte ein mutiger, junger Mann sieben Tage und sieben Nächte durch sein verbranntes Land, immer von der Hoffnung getragen, der große Zauberer Marlon Marcoon möge zu der Einsicht gelangen, die Menschen von ihrem Leid zu befreien. In einer düsteren Höhle am Ende eines abgelegenen Steinbruches traf er auf den Zauberer. Sein Zauberreich war ebenfalls von der Macht der Dunkelheit befallen und Marcoon, seinen Zauberkräften beraubt. Verarmt und einsam lag er vor ihm, dem Sterben nahe. Der junge Mann war verzweifelt, weil er hier nicht mehr die erhoffte Hilfe fand, die sein Volk erretten würde. So kniete er vor dem einst so Mächtigen nieder und bat ihn inständig, sich an seine Zauberkunst zu erinnern, aber er verstarb in seinen Armen. Aus der Hand des Sterbenden entfiel eine goldene Münze. Das Edelmetall glänzte wertvoll und funkelte selbst in der schwärzesten Dunkelheit. Fasziniert von ihrer Kraft und Schönheit, betrachtete er die Münze auf seiner Handfläche. In diesem Augenblick glühte sie heftig auf, brannte sich schmerzvoll in seine Haut. Vergeblich versuchte er, sie von sich zu schleudern. Der Schmerz wurde immer unerträglicher und ergriff von seinem ganzen Körper Besitz. Dann verlor er das Bewusstsein.
Als er erwachte, war es heller Tag. Überall roch es nach frischer Erde, nach Blumen, und das muntere Summen der Bienen drang an sein Ohr. Die dunklen Schatten, die Marcoons Reich umspannten, der Steinbruch, ja selbst die Höhle mitsamt dem Zauberer waren verschwunden. In seiner Hand hielt er die Münze. Ihr Glanz war fort. Die Oberfläche stumpf wie schmutziges, altes Messing. Nur ihre Schwere erinnerte ihn an das edle Metall.
Das Schnauben eines Pferdes in seiner Nähe ließ ihn aufblicken. Er war nicht allein.
Ein Mädchen, nein, es war eine Kriegerin in einem sonderbaren, grünen Gewand, die da vor ihm stand. Ihre Augen strahlten smaragdgrün. Nie zuvor hatte er ein so bezauberndes Wesen gesehen, das Schönheit, Stärke und Tapferkeit in einer Person vereinte. 
»Mein Name ist Vivien«, begrüßte sie ihn und überreichte ihm eine lederne Schreibmappe mit den Worten, dass er sie öffnen möge. 
In einem Seitenfach steckte ein Brief. Es war Marcoons letztes Vermächtnis an seine Tochter Vivien. Jene erhabene Kriegerin, die jetzt vor ihm stand. Die zukünftige Hüterin der goldenen Münze, die der Vater nach ihr benannt hatte. 

Linus wurde von William in seiner Erzählung unterbrochen. »Genau so habe ich es heute Morgen auf dem Marktplatz erlebt. Nur statt Vivien wurden Brandpfeile abgeschossen. Die Münze in meiner Handfläche wurde glühend heiß, und kurz darauf hielt ich die Schreibmappe in den Händen. In einem Seitenfach habe ich dann diesen Brief gefunden.« William zog aus der Hosentasche ein Stück Papier heraus. »Dies ist das Schriftstück, das Vermächtnis des alten Zauberers.«
Linus nahm den Brief von William entgegen. Schweigend las er die Zeilen. Dann reichte er ihn an Sir Robert weiter, der ihn für alle laut vorlas.
»Wer ist der Jüngling, der in dem Brief erwähnt wird?«, fragte Sir Robert.
»Sein Name ist Julien«, erzählte Linus seine Geschichte weiter. »Julien de Saint Ville. Er war dir sehr ähnlich, William.« 

Er liebte es, Geschichten zu erfinden, sie aufzuschreiben, sie anderen zu erzählen. Er erzählte sie, wann immer man ihm Gehör schenkte. Es ist überliefert, dass er auf Marktplätzen als Vorleser in Erscheinung trat. Er war bei den Leuten bekannt und beliebt. 
Sir Edgar T. Rose, ein Ritter und Edelmann, hörte davon und ernannte Julien zum Stadtschreiber von Greensen. Zukünftig stand er in den Diensten von Rose, der ihn beauftragte, seine Lebensgeschichte und die der Grafschaft aufzuschreiben.
Eines Tages fiel Sir Rose durch Zufall das geheime Buch der magischen Künste in die Hände. Keiner weiß genau, wie das geschehen war. Es wurde Marcoons Nachlässigkeit zugeschrieben. Womöglich wurde er aber auch gezwungen, es herauszugeben, da Sir Rose die Namensgleichheit als eine besondere Fügung ansah und deshalb das Buch mit allen Mitteln an sich reißen wollte. Es ist aber nicht genau überliefert. Fest steht, Marcoon wurde aufgrund dieses Vorfalls aus dem »Magischen Ring der Zauberer« verstoßen und in die Verbannung geschickt.
Sir Rose stahl das Buch aus dem Machtbereich des Zauberers. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass alle magischen Inhalte wie von selbst unwiederbringlich gelöscht wurden, bis auf zwei Ausnahmen: das gesamte Wissen der »Alten Welt« und die Initialen Marlon Marcoons, M.M.. Zusätzlich standen siebenundsiebzig leere Buchseiten für Aufzeichnungen bereit. Sie stellten den wichtigsten Teil des Buches dar. Sie dienten zur Niederschrift von Weissagungen, die mit einer klaren Vision für die nahe Zukunft einhergingen. Nach Erfüllung der Prophezeiung, sie nannten es Vatizinium, wurden die Texte in das gesamte Wissen der »Alten Welt« wie von magischer Hand übernommen und neue siebenundsiebzig leere Buchseiten warteten darauf, beschrieben zu werden. Wunderlicherweise umfasste das gesamte Buch »Rose« immer genau siebenhundertsiebenundsiebzig Seiten. Nie eine Seite mehr oder weniger.
»Was stand denn noch in dem Buch?«, wollte William wissen, der fasziniert, der Erzählung von Linus lauschte.
»Oh, eine ganze Menge! Das jahrhundertealte Wissen über die Kunst der Zubereitung von Kräutermixturen.« Jetzt kam Linus ins Schwärmen. »Geheime Zauberformeln, die Anwendung und Beschreibung ihrer Wirkungsweise. Ein altes Verzeichnis magischer Zauberspiele. Ach ja, und natürlich auch die Namen aller großen Magier, die das Buch verwaltet und zu Lebzeiten mit ihrem Wissen und ihrer Erfahrung ergänzt haben, waren darin verzeichnet.«
»Aber Sir Rose war doch kein Zauberer. Was sollte er mit dem Buch anfangen?«, fragte Sir Robert. »Die wichtigsten Zauberinhalte waren verloren. Abgesehen von Marcoons Initialen und ein paar leeren Seiten hätte er lediglich etwas über die Geschichte der ‚Alten Welt‘ lesen können.«
»Könnte man annehmen, aber in den paar Seiten weißen Papiers, wie Ihr es nennt, Sir Robert, lag die Gefahr und das Schicksal Gandenthals verborgen.«

Eine Füllfeder entfesselte mit übersinnlicher Kraft das wahre »Ich« des Schreibers und übertrug dessen positive wie negative Wesensmerkmale in das Buch. Je nachdem, welche Seite seiner Seele überwog, würde er sich dieser zuwenden. Bei Menschen mit der Leidenschaft zu Macht und Gewalt erweckte die Schreibfeder alle Niedertracht in ihnen zum Leben. Diese Gefahr war den Mitgliedern des Hohen Rates wohl bekannt. Aus Vorsicht wurde deshalb das Buch alle sieben Monate an einen anderen Zauberer weitergereicht, auf dass er es mit Wissen fülle. Sollte der Zauberer das Buch verlieren, drohten ihm Verbannung und der Ausschluss aus dem magischen Ring. Erst nach seinem Tod war er berechtigt, in den »Weißen heiligen Ring der Magier« aufzusteigen. Dort erwartete ihn Unsterblichkeit.

»T. Rose hat mit Hilfe des Buches die Macht in der Grafschaft an sich gerissen«, sagte Nicholas. 
»Ja, allerdings war er alles andere als erfreut darüber, dass wichtige Inhalte aus dem Buch verschwunden waren. Die Füllfeder verstärkte seine düstersten Gedanken, aber das Schlimmste daran war, dass sich seine Vorstellungen mithilfe dieses Buches erfüllen ließen.«

T. Rose legte Julien das Zauberbuch vor, damit dieser in seinem Namen Eintragungen vornehmen sollte. Julien ahnte nichts von den geheimen Kräften, die in dem Buch schlummerten, und T. Rose muss bei der Formulierung des Textes geschickt vorgegangen sein, denn es fiel Julien nicht gleich auf, was sein Dienstherr im Schilde führte. Denn T. Rose war als ein begnadeter Taktiker bekannt und verfügte über eine gewisse Weitsicht, die er stets geschickt einsetzte.

»Etwas verstehe ich aber nicht«, unterbrach William. »Warum hat T. Rose nicht selbst in das Buch hineingeschrieben?«
»Er reiste oft im Land umher und war daher nicht ständig anwesend. Julien war nur der Ausführende. Sein ungewollter Handlanger. Wie dem auch sei ...«, setzte Linus seine Erzählung fort. 

Zumindest verstand es T. Rose, mit Unterstützung des Zauberbuches die Macht im Lande zu erringen. Mit jedem Tag, der verstrich, gewann er an Einfluss und häufte Reichtümer an, die er hier in der Burg hortete. Er erhöhte kurzerhand die Steuern und ließ Gesetze ändern, um seine Macht auf Jahre hinaus zu festigen. 
Mit der Zeit spürte Julien eine beginnende Unzufriedenheit unter der Bevölkerung und versuchte, den Geschehnissen auf den Grund zu gehen. Doch als er T. Rose zu Rede stellen wollte, war es bereits zu spät. Julien wurde von T. Rose in eine geheime Bibliothek unter der Burg gebracht und dort festgehalten. Hilflos musste er mit ansehen, wie von Tag zu Tag eine unheimliche Wandlung in T. Rose vorging. Mehr und mehr verfiel er den schwarzen, magischen Abgründen des alten Zauberbuches und geriet unwiderruflich in ihren Bann.
Julien erkannte, dass es nicht mehr T. Rose selbst war, der die Macht im Lande ausübte. Das Böse war in Gestalt von T. Rose erschienen. Eine Zeit der Dunkelheit überzog das einst so friedliche Land. Überall roch es nach verbrannter Erde und die Menschen stürzten in tiefste Armut und Trauer.
Er fühlte sich mitschuldig an dem Untergang, weshalb er seine Flucht aus der Bibliothek plante. Schon vor Wochen hatte Julien die Initialen des letzten Zauberers entdeckt: zwei Buchstaben: M.M. für Marlon Marcoon. Da wusste Julien, was er zu tun hatte. Als einer der Wachposten vergaß, die Tür zur Bibliothek zu verschließen, flüchtete er durch einen Geheimgang in den »Tiefen Bärengrund« und von da in das Zauberreich Marcoons. Mit dem Tod von Marcoon begann eine fast unerfüllbare Aufgabe, die vor Julien und Vivien lag.

»Konnte Julien das Buch vor seiner Flucht zerstören?«, fragte Sir Robert.
»Nein, er hat versucht, es zu verbrennen. Aber das magische Buch kann man nicht zerstören.«
»Aber wie konnten sie T. Rose besiegen? Wie haben sie es geschafft?«, wollte William wissen.
Onkel Nicholas mischte sich ein: »Es fängt an zu regnen. Wir sollten jetzt hinuntergehen.«
»Nein, der Regen macht mir nichts aus«, sagte William entschlossen. »Wir sind sicher gleich fertig. Bitte erzähl weiter, Linus!«

Julien versuchte, die Macht von T. Rose zu unterwandern. Zunächst sendete er geheime Botschaften aus, verbreitete mithilfe Viviens und ihren Kriegern Gerüchte über die Ankunft eines neuen Befreiers im Lande. Er wollte mit aller Macht T. Rose verunsichern und zwang ihn so zu Fehlentscheidungen. Trotz großer Hindernisse bewältigten sie gemeinsam diese Herausforderung. T. Rose wurde im Erlengrund, in einen Kerker der Hünenburg eingesperrt, wo er Jahre später verstarb und in einer Gruft bestattet wurde. Im Laufe der Zeit verfiel die Hünenburg und geriet in Vergessenheit.

»Und was ist mit der Bibliothek? Wo ist das magische Buch geblieben?«, fragte William und wischte sich die ersten Regentropfen aus dem Gesicht.
»Wurden leider nie gefunden. Die Bibliothek gilt seit einem Brand als zerstört«, sagte Linus mit deutlicher Enttäuschung in der Stimme.
»Bleibt nur noch die Sache mit den Pfeilen und das Erscheinen der Weidenreitern zu klären.« Sir Robert deutete auf die beiden Geschosse, die Linus an seinem Gürtel trug – eines vom Bücherregal, das andere von der Vitrine.
»Ich hatte Gelegenheit, mir beide Pfeile vorhin genau anzusehen. Der Weidenpfeil von Sir Robert ist echt. Der andere ist eine Fälschung«, erklärte Linus. »Die Entführung von Lohmis war offensichtlich ein Täuschungsmanöver. Ich bin mir da sicher. Irgendjemand will den Verdacht auf die Weidenreiter lenken und uns so auf eine falsche Fährte führen. 
Da machen wir aber nicht mit! Ich glaube, dass Andy und seine »Wilde Horde« dahinter stecken. Henricus erzählte etwas von drei Männern in schwarzer Kleidung. Andere haben mir ebenfalls von drei dunkel gekleideten Kerlen berichtet, die heute Nachmittag in Richtung Burgruine gelaufen sind. Das kam ihnen verdächtig vor. Es kommt nur Andy dafür infrage! Wir wissen also, wo wir deinen Vater suchen müssen, William.«
Der Richter schaute vielsagend zu Linus hinüber.
»Im Erlengrund! Ich weiß, Sir Robert, kein leichtes Unterfangen! Aber Pit und ich, werden uns trotzdem gleich morgen früh auf die Suche machen. Keine Sorge, William, wir werden deinen Vater finden und alles dafür tun, dass er wohlbehalten zu dir zurückkehrt«, versicherte Linus.
»Jetzt zu den Weidenreitern«, sagte Sir Robert, und langsam fror es ihn. Es nieselte nur leicht, aber der Wind fegte kühl zwischen die kleine Gruppe.

Die Weidenreiter aus dem Weidenthal gehörten zu Viviens Gefolgsleuten. Sie kleideten sich in grüne Gewänder und trugen Schuhwerk aus geflochtenen Weidensträuchern, die sie fast unsichtbar und lautlos durch die Wälder streifen ließen. Ihre Waffen bestanden aus Zwillengeschossen, mit denen sie fauchende Steine abfeuerten. Gleichzeitig waren sie geschickt im Bogenschießen. Der Erzählung nach sind sie bis zum heutigen Tage die rechtmäßigen Besitzer und Hüter der goldenen Münze. Seit jener Zeit bilden die Münze Vivien und die Schreibmappe Marcoons eine unzertrennliche Einheit. Die Münze überträgt ihre Kraft auf die Mappe und damit werden ihre magischen Kräfte in Gang gesetzt. Erst wenn die Aufgabe des Auserwählten erfüllt ist, erstrahlt Vivien wieder im vollen Glanz.

William spürte, wie sein Blut in die Beine sackte. Er wurde leichenblass.
»Demnach bin ich der Auserwählte!«
»Es sieht danach aus, William!«, sagte Linus. »Die Situation, in der wir uns befinden, ähnelt dem einer Schachpartie. Es gibt weiße und schwarze Figuren in diesem Spiel. Der Spieler, der die weißen Figuren gezogen hat, ist der Anziehende, also derjenige, der das Spiel eröffnen wird und somit mehr Einfluss über die Gestaltung des Spieles besitzt. Der Nachziehende mit den schwarzen Figuren hat demnach einen kleinen Nachteil, den er versuchen muss im Laufe des Spiels wieder wettzumachen. Es gebührt seiner Intelligenz und Weitsicht, sich nicht in die Defensive drängen zu lassen. Deshalb versuchen die Spieler, mit den schwarzen Figuren, meistens auf ein Unentschieden, also auf ein Remis hin zu spielen. Nur in unserem Fall wird eine Pattsituation uns nicht weiter bringen. In unserem Spiel kann es nur einen Gewinner oder einen Verlierer geben. Und das ist die Schwierigkeit, in der wir uns im Augenblick befinden. Irgendjemand hat das Spiel mit den weißen Figuren eröffnet und schreibt in das Buch »Rose«, lässt den bösen Mächten freien Lauf. Deine Schreibmappe, William, ist der Gegenpart zum Buch »Rose« und es stellt die schwarzen Figuren in der laufenden Schachpartie dar. Hast du eigentlich die Münze noch?«
»Ich gab sie Onkel Nicholas. Er wollte sie für mich aufbewahren.«
Nicholas fischte die Münze aus der Westentasche.
»Schon gut, behalt sie«, sagte Linus. »Ich wollte nur wissen, wo sie ist. Ich glaube, Nicholas, sie ist bei dir am besten aufgehoben. Noch etwas bedarf der Klärung: Wer war dieser Gaukler und warum gab er ausgerechnet William die Münze?«
»Vielleicht ein Zufall?«, fragte Sir Robert. 
»Vielleicht, vielleicht aber auch nicht«, Linus überlegte. »Ich vermute mal, der Gaukler wusste offensichtlich um die Bedeutung der Münze. Und er wählte bewusst William für sie aus. Wahrscheinlich, weil er die Saga und ihre Zusammenhänge kennt. Vielleicht war es Marcoon sogar selbst, der, als Gaukler verkleidet, William die Münze anbot. Kurz nach dem Domänenbrand war der Gaukler wie vom Erdboden verschluckt, so als hätte es ihn nie gegeben. Keiner hat ihn mehr gesehen.«
»Marcoon ist doch gestorben«, warf Sir Robert ein.
»Ja, aber er war ein großer Zauberer und der Saga nach, ist er nach seinem Tod in den »Weißen heiligen Ring der Magier« aufgestiegen«, erwiderte Linus. »Und die Weidenreiter wurden seit der Verbannung von T. Rose nie wieder gesehen, bis zum heutigen Tag.«
»Dann vermutest du, dass die Hüter versagt haben«, fasste Onkel Nicholas zusammen.
»Ja, so muss es gewesen sein. Irgendetwas ist geschehen, etwas Furchtbares, dort in den Wäldern des Weidenthals. Denn die Weidenreiter hätten die Münze niemals verlieren dürfen!«

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