
Der Überfall
»… wenn du der Meinung bist, Eligius, dass unser Zeitplan stimmt, warum sind wir dann hier die Einzigen?«, fragte Herdan. »In den Jahren davor waren wir immer die Letzten, die eintrafen. Sage mir bitte: Wie soll das zusammenpassen?«
»Womöglich, weil wir diesmal die Ersten sind. Dann habe halt ein wenig Geduld. Die anderen kommen gewiss bald. Mein Mitgefühl hast du, Herdan!«
»Warum finden wir es nicht einfach heraus und gehen in die Bibliothek?«, fragte Vitus und sprang auf die Beine. »Ich kann es kaum abwarten, endlich in den vielen Büchern und Schriftrollen unseres Landes zu stöbern. Was für ein großartiges Gefühl muss das wohl sein, diese alten Schriften in den Händen zu halten und in ihnen zu forschen. Herdan, sag, wo ist überhaupt der Eingang?«
»Du stehst drauf«, antwortete Eligius anstelle von Herdan.
Vitus trat einen Schritt zurück und seine Augen suchten den moosbedeckten Waldboden ab.
»Ich sehe aber gar nichts.«
Eligius grinste. »Du bist ja auch kein Adeliger. Nur Grafen ist es vergönnt, den Eingang zu sehen.«
»Was faselst du da?«, rief Herdan. »Komm, ich werde dir den Eingang erklären, Vitus.«
»Still!«, zischte Lilian.
»Was ist, meine Tochter?« Herdan erhob sich vom Lagerfeuer und horchte gebannt.
»Hört ihr das nicht?« Lilian, die dicht hinter ihrem Vater stand, kniff die Augen zusammen. »Dort, um uns herum, in den Büschen.«
»Bist du dir da sicher? Ich höre rein gar nichts«, gab Eligius vor und blieb unbekümmert sitzen.
»Ja, ich bin an solch stille Orte gewöhnt.« Lilian drehte sich im Kreis. »Ich höre sie atmen.«
»Das sind die anderen Grafen«, mutmaßte Vitus.
»Nein!« Lilian ergriff ihren Stock. »Sie suchen mich!«
»Wer sucht dich? Du hast doch nichts ausgefressen, oder?«, hakte Herdan nach, und jetzt vernahm auch er ein deutliches Rascheln im Gebüsch.
»Ich habe etwas, was denen gehört.«
»So, so und was?« Herdan machte große Augen. Weiter kam er aber nicht, denn hinter Lilian tauchten drei Gestalten auf. Ihre Körper waren in rote Leinengewänder gehüllt, um die Hüften gehalten von orangefarbenen oder schwarzen Stoffgürteln. Die Gesichter waren – bis auf die Augen – mit Gesichtstuch und Stirnband bis zur Unkenntlichkeit vermummt. Sie wirkten wie Kämpfer aus einem fernen Land.
Lilian wirbelte herum. Alle ihre Gegner trugen einen ähnlich aussehenden Kampfstock wie sie.
»Sind das Freunde von dir, Lilian?«, fragte Herdan. Ihm war sofort die Gleichartigkeit der Waffen aufgefallen.
»Nein, eher nicht.«
»Prima, eine richtige Keilerei! Kommst du mit denen zurecht?«
»Aber klar doch«, rief Lilian zu allem bereit. »Wäre nicht das erste Mal.« Ihr Stock durchschnitt zischend die Luft.
»Ha! Das ist meine Tochter!«
Sechs weitere Kämpfer erschienen auf der anderen Seite.
»Wunderbar!«, rief Herdan und rieb sich die Hände. »Komm, Eligius, es gibt etwas zum Draufhauen!«
»Das schafft ihr drei doch locker alleine!«, scherzte sein Freund und warf unbeirrt weitere Holzstücke ins Feuer. Sofort wurde es heller.
»Vitus, bleib in meiner Nähe. Dann bekommst du auch einen ab«, sagte Herdan.
»Das ist bestimmt nicht der Wille des Herrn.«
»Der alte Herr ist gerade nicht hier, Vitus.« Herdan beugte seinen Oberkörper zurück, ballte die Fäuste und stürmte wie ein wild gewordener Stier den sechs Angreifern entgegen.
»Stimmt! Oder er ist heute besonders barmherzig.« Vitus bekreuzigte sich rasch über der Brust. Dann stürzte er Herdan hinterher.
»Aaahhh!«, schrie Lilian kämpferisch und rannte fast gleichzeitig mit ihrem Vater los. Ihren Stock hielt sie wie ein Schwert mit beiden Händen fest umklammert.
Dem ersten Gegner wich sie geschickt aus. Den Schlag parierend, tauchte sie unter seinem Stock ab, drehte sich um ihre eigene Achse, holte kurz aus und traf ihn schmerzvoll am Rücken. Er taumelte. Dann stieß sie den Stock auf den Boden und hebelte den zweiten Angreifer von den Beinen. Einen Salto schlagend rutschte dieser rücklings in einen Dornenbusch. Den dritten Kämpfer ließ sie gekonnt passieren. Er hatte seinen Angriff mit etwas zu viel Schwung gestartet und sein Schlag traf ins Leere, sodass er ins Stolpern geriet. Offenbar fehlte ihm die nötige Übung und das hatte Lilian sofort ausgenutzt.
Herdans massiger Körper donnerte heran. Mit weit ausgebreiteten Armen griff er sich gleich drei der Angreifer und warf sie einfach um. Mit ihren Stöcken rutschten sie über den Waldboden. Benommen blieben sie liegen.
»Na los, ihr Knirpse! Ich warte!«, schrie er den anderen Dreien entgegen. Verunsichert wichen sie ein paar Schritte zurück. Herdan war sich aus langjähriger Erfahrung bewusst, dass sie nur auf eine Unachtsamkeit seiner warteten, um dann zuzuschlagen. Hinter ihm stand Vitus und gab ihm Deckung, indem er versuchte, möglichst böse dreinzublicken.
»Ich bin hier gleich fertig! Wie läuft´s bei dir?«, rief er seiner Tochter zu.
»Dauert noch ein Weilchen!« Lilian ging federnd in die Knie und stabilisierte ihren Stand. Ihr Stock rotierte hin und her. Sie wartete auf den nächsten Angriff.
»Gib mir Bescheid, wenn du so weit bist!«
»Aber klar doch!«, rief sie ihrem Vater zurück.
Lilians Gegner waren körperlich gut in Form. Der kämpferisch Schwächere hielt sich jetzt vorsorglich etwas im Hintergrund. Die anderen beiden hatten sich erstaunlich rasch wieder von den Treffern erholt und postierten sich neu.
Wie gefräßige Raubkatzen umkreisten sie Lilian.
Sie wartete. Ihr Atem ging ruhig. Mit denen würde sie schon fertig werden.
Hinter ihrem Rücken peitschte ein schmaler Schatten durch die Luft. Lilian schwang den Stock über ihre Schulter und der Schlag des Gegners wurde abgewehrt. Sein Stock streifte leicht ihren Oberschenkel und glitt seitlich weg. Fast gleichzeitig erfolgte der Angriff von vorn in Höhe ihres Kopfes. Flink zog sie ihren Stock wieder zurück, ließ ihn rotieren, parierte erneut und schlug dem Angreifer seine Waffe aus den Händen. Dann versetzte Lilian ihm einen Hieb gegen die Brust, sodass er nach Luft schnappend umfiel und regungslos liegen blieb. Sein Stock flog hoch hinauf und fiel Vitus direkt vor die Füße. Rasch bückte sich der Mönch und nahm den Stock an sich.
»Kommt her, ihr Schurken!«, rief Vitus ihnen zu und schwang mutig seine eroberte Waffe. »Ich bin jetzt bewaffnet, ha, ha …«
»Zack, zack!«, machte es, und der Stock prallte ihm gegen den Kopf. Vitus hatte sich selbst außer Gefecht gesetzt. Völlig entgeistert starrte er vor sich hin; dann kippte er nach hinten weg.
Herdan drehte sich herum und sah, wie Vitus zu Boden ging. Schreiend stürzte sich die restliche Meute auf ihn.
Die Kerle hingen wie die Kletten an ihm und droschen auf ihn ein. Wie ein außer Kontrolle geratenes Karussell rotierte Herdan im Kreis. Aber er wurde sie nicht los.
»Da waren es nur noch zwei«, dachte Lilian. Angriffslustig schwangen die roten Kämpfer ihre Stöcke und stürmten vor. Krachend trafen sich ihre Waffen. Es blitzte. Funken sprühten. Lilian schrie entsetzt auf. Ihr Handgelenk brannte vor Schmerz. Der Stock entglitt ihr aus den Händen und wurde quer durch die Luft geschleudert. Wie von einer geheimen Kraft getroffen, wurde sie nach hinten gerissen.
Lilians heranfliegender Stock traf Herdan am Schädel. Ihm wurde schwarz vor Augen. Der Waldboden fing den Bewusstlosen weich auf.