
Wenn die Nacht hereinbricht
»So, ich glaube, das dürfte einstweilen reichen – zumindest bis morgen früh. Dann sollten wir aber jemanden holen, der eine neue Glasscheibe einsetzt.« Nicholas legte den Hammer in die Holzkiste zurück, klatschte einmal kräftig in die Hände – so, wie er es immer nach getaner Arbeit tat – und klappte den Deckel zu. Er hatte das zerbrochene Fenster mit flachen Holzbohlen und starken Nägeln gesichert.
»Lass mich nur schnell nachsehen, ob alle anderen Fenster fest verschlossen sind, denn der Sturm wird gleich losbrechen. Und dann, Will, darauf freue ich mich schon den ganzen verdammten langen Tag: Wir werden endlich etwas essen und hinterher versuchen, ein paar Stunden zu schlafen!«
William kniete am Boden und schruppte mit einer Bürste das getrocknete Blut von den Holzdielen. Kurz darauf war er fertig.
»Alles dicht!«, rief Nicholas und setzte sich an den Tisch. »Und jetzt, Will, lass uns zu Abend essen. Was haben wir denn so alles da?«
»Mal sehen.« William stand in dem schmalen, fensterlosen Vorratsraum und stutzte. Wo waren die dicken Würste und der saftige Schinken hin? Er war sich sicher, dass da gestern mindestens vier Landjäger und ein Stück Räucherschinken fein säuberlich auf einem Stock aufgereiht hingen. Er konnte sich deshalb daran erinnern, weil Onkel Nicholas sie frisch vom Landbauern geholt hatte – wie immer getauscht, gegen irgendetwas Nützliches. Der Käse fehlte ebenfalls und kein Gandenthaler Krüstchen war, wie normalerweise üblich, vom Frühstück übrig geblieben.
Im Grunde war ihm das mit der Wurst, dem Schinken und dem Käse ziemlich egal, da er stets Marmelade der Wurst, dem Schinken und dem Käse vorzog. Natürlich wusste er, wie deftig Onkel Nicholas zulangen konnte, und nach diesem ereignisreichen Tag würde er sich nicht mit Marmelade und einigen Brotkrumen begnügen wollen.
»Ich glaube, das Abendbrot fällt heute aus, es sei denn, du gibst dich mit dem Rest der Marmelade zufrieden«, schallte es aus der Vorratskammer und über der geöffneten Tür erschien ein halb gefülltes Marmeladenglas.
»Lass die Witze, William. Ich habe Kohldampf. Komm, tisch auf! Bring die Wurst und den Käse her und das frischgebackene Brot von gestern. Mann, bei dem Gedanken daran, läuft mir die Soße im Mund zusammen.«
»Ich mache keine Witze! Es ist nichts mehr da, außer Marmelade.«
Mit einem Satz sprang Nicholas vom Stuhl hoch, packte William mit seinen kräftigen Händen an den Schultern und bugsierte ihn zur Seite.
»Lass mich mal sehen. Haha, du bist ja ein kleiner Scherzbold!« Grinsend betrat er die Kammer. Augenblicklich gefror seine Miene.
»Das gibt es doch gar nicht! Bei allen Geistern der Wälder, heute Morgen war noch alles da«, kam es halb brummelnd und halb fluchend über seine Lippen. »Wenn ich den erwische, na, der kann was erleben!«
»... und, was nun?«, fragte William.
Onkel Nicholas wirbelte herum, warf die Tür der Vorratskammer mit einem lauten Knall zu, sodass William vor Schreck gleich mehrere Schritte zurückwich.
»WIR ESSEN NATÜRLICH! Was hast du denn gedacht! Oder meinst du etwa, dass das einen Botterbloom beeindrucken könnte? Komm, es wird Zeit, dass ich dir etwas zeige!«
Wütend marschierte Onkel Nicholas zur Kellertür, kramte dabei tief in seinen beiden Hosentaschen nach dem passenden Schlüssel und schloss auf. Seine Hand ergriff wie aus dem Nichts eine Fackel, die sich sogleich von selbst entzündete, dann verschwand er in der Dunkelheit.
William zögerte. Es war ihm verboten, die Kellerräume zu betreten.
»Komm schon, hab keine Angst, mein Jong!«, scholl die Stimme seines Onkels aufmunternd aus dem Keller zu ihm herauf.
Unsicher betrat er den obersten Treppenabsatz und wich zurück. Einige Hundert Fuß maß die Treppe, die sich wendelförmig abwärts bewegte und deren Ende nicht auszumachen war.
»Das ist nicht unsere Kellertreppe! Was … ist das?«
Onkel Nicholas stand einige Stufen unter ihm und winkte beruhigend zu ihm hoch.
»Keine Sorge! Es hat alles seine Richtigkeit. Komm zu mir herunter.«
William tastete sich am Treppengeländer entlang und stieg hinab. Hinter ihm klackte die Tür kaum hörbar ins Schloss.
»Bleib möglichst dicht hinter mir!«
»Aber ...!«
»... und jetzt erst einmal keine Fragen«, und mit diesen Worten führte Nicholas William die steile Treppe hinunter. Es roch nach frischem Wasser, feuchtem Gestein, überhaupt nicht muffig. Von irgendwoher war ein leises Plätschern zu vernehmen und im Schein der Fackel glitzerte an den Felswänden ein leichter Moosansatz.
Unten angekommen löschte Nicholas die Flamme und öffnete fast gleichzeitig eine breite, zweiflügelige Tür, die in einen hell erleuchteten Raum führte. Sachte schob er den staunenden William hinein.
Der Raum entsprach dem einer riesigen Bibliothek mit deckenhoch gezimmerten Regalen, vollgestopft mit in Leder gebundenen Büchern und sorgfältig eingeordneten Dokumenten. Martialisch anmutende gekreuzte Schwerter, vor mannshohen wappentragenden Schilden, flankierten wie zum Schutz jedes Regal. William zählte sechs Schilde zu seiner linken und sechs zu seiner rechten Seite. Ein mit kostbaren Schnitzereien verzierter Eichentisch mit siebzehn Lehnstühlen, bezogen mit dunkelblauem Samt, bildete den Mittelpunkt des Saales. Die Wandfackeln brannten flackerfrei, obwohl ein angenehmer Luftstrom durch den Raum wehte. Ein wuchtiger Kamin spendete behagliche Wärme. Am Ende des Raumes mündete frisches Felsquellwasser plätschernd in eine kleine Zisterne. Einige prächtige Zinnbecher standen auf einem Regal gleich daneben.
»Irre! Wo … sind wir?«, staunte William.
»Was du hier siehst, ist die geheime Bibliothek der zwölf Grafschaften. Geschriebene Geschichte, zusammengetragen über viele Jahrhunderte. In diesen Tausenden von Büchern und Dokumenten findest du die Gedanken und Worte bedeutender Personen vereint, die in unserem Land einst wirkten und lebten. Einige dieser Schriften galten bis vor wenigen Jahrzehnten als verschollen. Dass wir sie heute wieder hier bei uns gesichert wissen, verdanken wir wenigen großartigen und mutigen Menschen«, erklärte sein Onkel stolz. »… und, magst du etwas essen, William? Deshalb sind wir ja schließlich hergekommen, oder?«
»Ja!«
»Dann komm und setz dich.«
Mit einer einladenden Geste wie bei Hofe lud Nicholas William ein, am Tisch Platz zu nehmen. Er ließ sich ehrfürchtig auf einen der Stühle nieder und schaute seinem Onkel sprachlos zu, wie er mit raschen Schritten die Bibliothek durchquerte und zu einer Anrichte eilte.
»Magst du Gandenthaler Krüstchen mit deiner Lieblingsmarmelade essen oder möchtest du frisches Brot mit Schinken, Wurst und Käse?«
»Ich glaube, mir ist heute Abend fast alles recht, Onkel Nicholas, ... mir ist alles recht!«