Geheimnisvolles Gandenthal

Kasper, der »Rote Milan«

Seinem Instinkt folgend, nutzte Kasper die abendlichen Aufwinde und glitt in die weite Ebene des Gandenthals hinein. Hier war er zu Hause. Dort unten erblickte er zusammen mit seinen Geschwistern das Licht der Welt. Er galt als das schwächste Jungtier im Nest. Sein Bruder und seine Schwester zogen bereits am Himmel ihre Kreise, da hatte er das Fliegen noch nicht erlernt. Er verspürte keine rechte Lust dazu, sondern zog es vor, im warmen Horst zu hocken und über die Weite der Wälder zu schauen. Zugleich empfand er es als recht angenehm, sich weiterhin von seinen Eltern füttern zu lassen, anstatt selbst auf die Jagd zu gehen.
Eines Nachts zerstörte ein schwerer Hagelsturm den Horst und er stürzte viele Hundert Fuß in die Tiefe hinab. Vedas Vater fand ihn mit einem gebrochenen Flügel und nahm ihn zu sich in Pflege. Seine Eltern und Geschwister hatte er seit jener Nacht nie wieder gesehen. 
Vom ersten Moment an adoptierte der junge Milan seine neuen Zieheltern und wich Veda und ihrem Vater nicht mehr von der Seite. Seine Wunden verheilten und im Laufe der Zeit entwickelte er sich zu einem geschickten und mutigen Flieger. Veda gab ihrem kleinen Spielgefährten den Namen »Kasper«, weil er immer so lustige Gluckslaute von sich gab, wenn er wieder einmal irgendwelche Verrücktheiten anstellte.
Kaspers Lieblingsbeschäftigung war es, seine Freundin mit halsbrecherischen Flugeinlagen zu überraschen. Dabei stolzierte er dicht an der Felsenkante entlang, gluckste freudig vor sich hin, um urplötzlich mit einem gellenden Schrei in die Tiefe abzukippen, ohne dabei seine Flügel auszubreiten. Dann schoss er mit hoher Geschwindigkeit in den roten Abendhimmel hinein, drehte ein paar tollkühne Loopings und verschwand zwischen den »Weißen Klippen«, um kurz darauf hinter Veda unvermittelt wieder aufzutauchen, so als wäre dieser kleine Abstecher in den Abgrund das Normalste von der Welt. Veda blieb fast jedes Mal das Herz stehen. 
»Er ist nun mal ein Vogel«, sagte sie sich, »und Vögel müssen fliegen«. 
Nur Kasper schien mit seinen riskanten Flugkünsten völlig aus der Art zu schlagen. Es war sein Geschenk an Veda, ihr zu zeigen, wie glücklich er über sein Leben war, welches er dem Mädchen und ihrem Vater verdankte, die ihn in jener Nacht vor dem sicheren Tod gerettet hatten. 
Mit jedem Tag, den sie draußen in den Wäldern des Weidenthals verbrachten, wuchsen Freundschaft und Liebe der beiden zueinander. Der Milan lehrte Veda, einen unfehlbaren Instinkt für heraufziehende Gefahren zu entwickeln. Er zeigte ihr, was grenzenlose Freiheit bedeutete, ließ ihr seinen Schmerz und seine Freude spüren. Veda entwickelte die Fähigkeit, ihre Gedanken auf Kasper direkt zu übertragen. Kein störendes Rufen von Befehlen während der Jagd war mehr von Nöten. Gemeinsam verschmolzen sie zu einer verschworenen Einheit, deren Band nur durch den Tod eines jeden Einzelnen zerschnitten werden konnte.

Kasper flog in die Abenddämmerung hinein. In den frühen Abendstunden flachte der Wind in den Tälern meistens ab und es herrschte bald darauf Windstille. Jetzt, nach dem Regen, war die Luft von einer ungeheuren Frische erfüllt und das Segeln hinunter in die Täler kostete wenig Kraft. Das war so richtig nach seinem Geschmack, denn starke Winde mied er tunlichst und Regen, der gefiel ihm schon gar nicht. Geräuschlos glitt er dahin, überquerte im Tiefflug die weitläufigen Wiesen des Gandenthals, gewann über dem Dorf Greensen geschwind an Höhe, um sich mit weit gespreizten Fängen auf dem dicken Ast eines Bergahorns niederzulassen. Das junge und für dieses Frühjahr ungewohnt dichte Laubwerk gab Kasper genügend Deckung für sein Vorhaben. Er schielte hinüber zu dem kleinen, alten Fachwerkhaus mit seinen schiefen Fenstern und Türen und zu dem geschlossenen Holztor, das zur Burgruine führte.

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