
Der Weidenpfeil
Der Mann auf dem Kutschbock wirkte recht gelassen angesichts seiner gefährlichen Ladung, die er fest verschnürt unter einer großen Plane verborgen hielt.
Ein kurzes Schnalzen mit der Zunge, ein kräftiges Peitschen mit den Zügeln und der Vierspänner setzte sich ruckartig in Bewegung. Mit gewohnt sicherer Hand lenkte Patrick McBuffer das Gefährt über die weißen Kieswege der Domäne in Richtung Gerichtsgasse. Linus und Pit liefen neben dem Fuhrwerk und sicherten die Umgebung ab.
Entgegen seinen sonstigen Gepflogenheiten hatte Patrick den schwarzen Chapeau-Claque-Zylinder, den er sonst stets trug, wenn er im Auftrag von Sir Robert unterwegs war, wie eine Diskusscheibe zusammen mit seiner Jacke nach hinten auf die Plane geworfen. Das Aufschultern und Verstauen der Gefangenen hatte ihn ins Schwitzen gebracht. Kaum vorzustellen, dass drei so starke Kerle von drei so kleinen Steinen einfach mir nichts, dir nichts umfielen und davon einen ganzen Tag lang betäubt liegen blieben. Er hatte schon einiges erlebt in seinem Leben; war gemeinsam mit Sir Robert um die halbe Welt gereist und dabei so manchem Mysterium begegnet. Aber wie so oft entpuppte sich alles im Nachhinein als großer Schwindel.
Die gegenwärtigen Geschehnisse hier im Gandenthal entsprachen nicht dem, was er kannte. Etwas Rätselhaftes lag in der Luft und das schon seit einiger Zeit; dessen war er sich absolut sicher.
Patrick steuerte den Vierspänner vor das Landgericht, ein ockerfarbenes Fachwerkgebäude mit grünen Holzläden und Blumenkästen aus Ton vor den Fenstern. Neben dem imposanten Eingangsportal wehte zur Linken die Fahne der Grafschaft und zur Rechten die des Nordlandes. Über dem Eingang war ein Schild aus grauem Schiefer mit goldener Inschrift angebracht, auf dem stand:
Justitia et Pax
Gerechtigkeit und Frieden
Der parkähnliche Garten rund um das Gebäude beeindruckte mit alten Apfelbäumen und hohen Tannen. Ein schmiedeeiserner Zaun umgab das Grundstück und endete an dem Bach, der zur Domäne führte. Das Gerichtshaus war erst vor wenigen Jahren neu erbaut worden. Bis zu seiner Fertigstellung hatte man alle Rechtsstreitigkeiten in der Grafschaft unter freiem Himmel verhandelt. Selbst heute kam es vor, dass in den heißen Sommermonaten die Verhandlungen unter die Schatten spendenden Bäume des Gartens verlegt wurden. Hier verhandelten hitzig Kläger und Beklagte, Richter und Anwälte über das unerlaubte Übertreten von Grundstücksgrenzen, unbezahlte Rechnungen oder den Diebstahl von Vieh.
Sir Robert stand am Zaun und beobachtete die Männer, wie sie den schweren Vierspänner zum Stehen brachten. Er trat hinzu und reichte Linus den Weidenpfeil aus seinem Schreibzimmer. »Das ist er!«
Der Oberfeldhüter nahm den Pfeil entgegen, strich vorsichtig über die Spitze und balancierte ihn fachmännisch aus. »Ein wirkliches Meisterstück«, sagte er bewundernd. »Vollkommene Handarbeit. Der Bogenmacher ist ein Könner seines Fachs. Recht eindrucksvoll. Und wo ist die Nachricht, Sir Robert?«
»Ach ja, hier, der Zettel.« Sir Robert gab Linus ein Stück Papier.
»Domäne – Stallungen – ›Wilde Horde‹«, las Linus laut vor. »Wenn es Ihnen recht ist, Sir Robert, dann behalte ich den Zettel als Beweisstück.«
»Einverstanden. Hört zu!«, sagte Sir Robert eilig. »Ich nehme den kurzen Fußweg zur Burg und hole vom Schließer die Schlüssel. Mit Lohmis werde ich auf dem Burgfried alles Nötige vorbereiten und dann dort auf euch warten. Ihr werdet mit dem Fuhrwerk eine knappe Stunde unterwegs sein. Passt auf! Haltet Augen und Ohren offen! Wir dürfen die Ladung nicht verlieren!«
»Machen wir, Sir Robert, wir werden auf der Hut sein«, sagte Pit.
Linus steckte den Pfeil an seinen Gürtel und gab Patrick das Zeichen zum Losfahren.
»Auf gehts, bringen wir es hinter uns!«, rief er und gab einem der Pferde einen leichten Klaps aufs Hinterteil.
Der Vierspänner fuhr mit einem Ruck an.
Mit weit ausholenden Schritten machte sich Sir Robert auf den Weg zum Viadukt. Kurz davor betrat er einen schmalen Trampelpfad, der direkt zur Burgruine führte.